Press

Zurück ist vorwärts

Marthe Keller und Thomas Hampson im VOGUE-Gespräch, April 2004

Marthe Keller: Erinnerst du dich, dass wir uns schon einmal begegnet sind? Ich stand in der Bastille-Oper vor deiner Tür, und du hattest keine Ahnung, wer ich bin.

Thomas Hampson: So kurz vor meinem Auftritt als Wilhelm Tell war ich nicht darauf gefasst, eine der schönsten Schweizerinnen kennen zu lernen. Ich hatte dann auch überhaupt keine Zeit, mich bei dir einzuschmeicheln, konnte keinen meiner Tricks anwenden.

Thomas Hampson. Photo: Stefan Indlekofer

Marthe Keller: Du hast nur einen einzigen benutzt, der für dich ganz natürlich ist, bei mir allerdings fabelhaft wirkt – du hast gelesen. Ein Buch von Nietzsche oder Adorno. Ich fragte dich: Müssen Sie denn nicht auf die Bühne? Und du: Nein, erst in einer Minute.

Thomas Hampson: (lacht) Ich wollte noch mal kurz Proust durchlesen, die ersten zwölf Bände. Die anderen hatte ich daheim gelassen.

Marthe Keller: Ich fürchtete mich davor, dich zu treffen, dir eilt der Ruf voraus, ein sehr intelligenter Mann zu sein.

Thomas Hampson: Das ist ja absurd. Jetzt kriege ich Angst.

Thomas Hampson. Photo: Stefan Indlekofer

Marthe Keller: Hoffentlich. Als Schauspielerin beobachte ich Sänger aus einer strengen Perspektive. Man spürt sofort, ob jemand nur spielt oder eins mit seiner Rolle ist. Wenn du wie ich an 540 Abenden nacheinander im selben Stück auf der Bühne stehst, musst du jedes Mal einen neuen Rhythmus finden. Ich langweile mich schnell und habe alle sieben bis zehn Jahre den Beruf gewechselt – vom klassischen Tanz zum Theater, dann Film, jetzt Opernregie. Ich leide wahnsinnig unter Lampenfieber: Ein Tag, an dem ich abends einen Auftritt habe, ist für mich gelaufen. Wenn ich Regie führe, kommt es mir jedoch vor, als würde ich im Schatten sitzen und die Sänger stehen in der Sonne.

Thomas Hampson: Ich gestalte höchstens einen Liederabend. Das bedarf auch einer gewissen Regie. Einfach bloß eine Liste von Stücken zusammenzuschustern und sie hinauszuschmettern – das interessiert keinen. Man muss schon eine Geschichte haben, Zusammenhänge und Widersprüche, sodass am Ende einige der Zuhörer in ihrem Selbst- und Weltbild aufgewühlt sind.

Marthe Keller: Mit Musik erreicht man die Leute so schnell. Im Schauspiel brauchen wir manchmal Stunden. Wir haben immer die Angst, dass “es’ nicht geschieht. Musiker müssen sich darum keine Sorgen machen. Man kann schlechter singen oder besser, aber man singt. Wenn es bei uns nicht stimmt, die Emotionen und der Instinkt, ist es eine Lüge, und man selbst weiß es als Erstes.

Thomas Hampson: Das ist beim Singen genauso. Dass das Geräusch aus dem Hals kommt, macht noch keinen Sänger.

Marthe Keller: Ich meine es anders. Wenn ich den Gesang und das Orchester höre, dann ist ein gewisses Gefühl schon da. Und nach einer Ouvertüre ist mir, als ob ich ein Glas Wein getrunken hätte – ich bin nicht mehr so nüchtern. Aus der Stille heraus zu schöpfen ist viel schwieriger. Ich bin keine Naturbegabung und muss wahnsinnig dafür rackern. Doch je älter ich werde, desto stärker wird auch der Drang, mir etwas zu erarbeiten. Dieses Leben ist kurz. Und Arbeit bereichert es. Ich hasse faule Leute.

Thomas Hampson: Es steckt viel mehr Fleiß in unserer Tätigkeit, als andere denken. Disziplin ist keine Begrenzung – im Gegenteil, sie ermöglicht gerade das Ungeordnete, die Spontanität.

Marthe Keller: Was du sagst, ist absolut wichtig. Da kommt das Problem der Freiheit wieder ins Spiel.

Thomas Hampson: Eine Tosca, die sich in Tränen auflöst, ist Masturbation. Doch ihre Emotionen und den Zusammenhang, in dem Puccini sie sieht, genau darzustellen, das ist etwas anderes.

Marthe Keller: Disziplin ist alles.

Thomas Hampson: Speziell das Auswendiglernen! Das macht euch auch krank, oder? Im Vertrag der Met steht: Wenn du den Text am ersten Tag nicht kennst, kannst du gleich einpacken.

Marthe Keller: Bei mir ist es ganz einfach – ich habe herausgefunden, dass ich Sauerstoff brauche, ich präge mir meine Texte darum auf Spaziergängen ein. Die Kühe in Verbier kennen sie alle.

Thomas Hampson: Ich lerne im Sitzen, aber ich traue mir nicht, solange ich den Text nicht im Gehen beherrsche.

Marthe Keller: Trotzdem frage ich mich manchmal, warum wir für etwas bezahlt werden, das wir so sehr lieben.

Thomas Hampson: Heute haben die meisten die Einstellung, dass man sein Geld irgendwie verdient, damit man sich leisten kann, was einen wirklich interessiert. Das finde ich sehr gefährlich.

Marthe Keller: Bei mir ist der Beruf im Grunde eine Flucht, weil ich das Leben nicht mehr aushalte. Ich übertreibe jetzt ein bisschen – ich leide gar nicht an Depressionen.

Thomas Hampson: Ich fühle mich nicht so abgeschreckt von der Welt wie du. So vieles in der Kunst zeigt mir, dass es nie wirklich anders war. In den 60ern und 70ern dachten wir, wir wären ein ganz neues Volk geworden, wir wüssten, wie es geht: Hemden aus Polyester sind knitterfrei, Waschmittel entfernen den Schmutz. Wir glaubten, wir hätten überwunden, was uns Jahrtausende geplagt hat. Doch das stimmt nicht. Wir sind eben Menschen.

Marthe Keller: Haben wir diesen Beruf gewählt, weil wir so übersensibel sind, oder sind wir erst durch ihn so empfindlich geworden? Wenn ich an meine Freundin Marie Trintignant denke, die von ihrem Freund totgeschlagen wurde: Die Rollen, die wir spielen, die gibt es auch in der Realität – das hat mich vollkommen fertig gemacht. Ich bin nicht besonders moralisch, und ich gehe nicht in die Kirche. Aber ich glaube an jemand, der wichtiger ist als ich und der mir stets geholfen hat, egal wie man ihn nennen mag.

Thomas Hampson: Ich differenziere zwischen Religion und Spiritualität. Religion bedeutet ja nur, dass man sein Leben ausrichtet, doch alle großen Philosophen weisen grundsätzliche Ähnlichkeiten auf. Der Weg mag eigenwillig sein – die Ziele unterscheiden sich kaum. Die Kunst will zeigen, wie der besondere Weg mit dem allgemeinen Ziel zusammenhängt, wie jeder Einzelne mit dieser Auseinandersetzung fertig wird. Wir lesen, um zu erfahren, dass wir nicht allein sind, wir singen, um Radarkontakt herzustellen.

Marthe Keller: Es geht ums Teilen, ums Teilnehmen.

Thomas Hampson: Weißt du, dass die chinesischen Regionalführer durch die Gemeinden gingen und sich die Gesänge der Dorfbevölkerung anhörten? Es war ihre Aufgabe, in die Menschen hineinzuhören und auf Disharmonien zu achten.

Marthe Keller: Jetzt muss ich dir eine Frage stellen: Ich habe das Gefühl, dass ihr durch das Atmen und Singen weniger mit Drogen zu tun habt als wir.

Thomas Hampson: In meinem Milieu gibt es viel Alkohol, aber erst nach der Vorstellung. Du kannst sonst nicht auf die Bühne.

Marthe Keller: Das meine ich! Bei uns, beim Drehen … Singen ist bestimmt gesund. Man müsste mehr singen – unter der Dusche, in den Schulen und an den Konservatorien. Ich glaube, Singen macht freier, bringt mehr als alle psychiatrischen Kliniken zusammen: Lachen lernen und Singen lernen.

Thomas Hampson: Ich habe auch eine Frage. Mich beunruhigt zunehmend die Sprechstimme im Schauspiel. Ich glaube, dass sie sehr von Film und Fernsehen beeinflusst wird.

Marthe Keller: Darüber habe ich lange mit Marlon Brando diskutiert, der wie ich Mitglied des New Yorker Actors Studio ist. Brando findet es altmodisch, wenn der Zuhörer alles versteht. Ich bin hingegen der Meinung, dass das einfach zur Höflichkeit gehört. Obwohl Brando eines der größten Genies ist, verrät er mit seinem Wegnuscheln einen gewissen Narzissmus. Wenn jemand auf der Bühne leise spricht und man ihn dennoch versteht – da zeigt sich für mich die wirkliche Energie. Aber dahinter steckt ja Arbeit!

Thomas Hampson: Und künstlerische Großzügigkeit.

Marthe Keller: Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Meine Mama hat noch die Strümpfe selbst gestopft. Heute wirft man selbst Ehepartner weg, wenn sie einmal gebraucht sind. Sobald es Probleme gibt, nimmt man sich den nächsten Mann. Der Wohlstand hat die Leute auseinander gebracht. Ich habe einmal während eines Schneesturms in Straßburg auf dem Bahnhof gewartet. Der Zug hatte drei Stunden Verspätung, es war kalt, und alle begannen miteinander zu reden. Dann kam der geheizte Zug, wir stiegen ein – die Gespräche verstummten: Der Komfort war wieder da und jeder wieder für sich.

Thomas Hampson: Ich glaube, die Menschen waren betreten.

Marthe Keller: Von der Angst vor der Einsamkeit wird man nur geheilt, wenn man im Leiden mehr teilt, sich wie eine Familie fühlt. In Europa sind vorigen Sommer während der Hitzewelle mehr als 20000 Menschen gestorben. Früher hat man sich um seine Angehörigen gekümmert. Da hatte man an den Opernhäusern auch ein festes Ensemble. Heute gibt es ständig diese Jetlag-Situation.

Thomas Hampson: Ich bin selbst kein großer Reise-Fan. Es ist natürlich faszinierend, immer woanders zu sein. Doch die Leute unterschätzen völlig die Banalität unseres Lebens. Ein reisender Künstler ist ständig irgendwo am Packen. Ich fühle mich nicht einsam, aber ich bin ein Mensch, der gern sein Zuhause hat. Und als Sammler weiß ich meine Bücher und Platten am liebsten in der Nähe. Für die meisten bin ich nur der große Don Giovanni. Dabei haben solche Projektionen nichts mit mir zu tun. Ich verstehe mich als Künstler, der verschiedene Persönlichkeiten formt und sie den Menschen schenkt, damit sie ihre eigene daran bilden können. Das permanente Missverstehen ist deprimierend. Auch wenn ich es heute besser verkraften kann, dass die meisten mich als Erscheinung nehmen: Ich bin groß, ich bin nett.

Marthe Keller: Das Problem bekannter Leute – sie werden nicht für das geliebt, was sie leisten, sondern für das, was sie darstellen.

Thomas Hampson: Nicht sehr begabten Menschen wird oft alles verziehen, weil sie sympathisch sind. Und sehr talentierte vernachlässigt man, weil sie als wenig umgänglich gelten. Wir beide sehen uns überhaupt nicht als Stars, wir gehören nicht zu den Überholspur-Fahrern der Unterhaltungsindustrie. Wir sind gern Außenseiter. Doch wenn der Persönlichkeitskult das einzige Mittel ist, um die Menschen zu erreichen, dann frustriert mich das.

Marthe Keller: Ich benutze die U-Bahn, ich besitze kein Mobiltelefon, mache keine Kollagenkuren. Ich lebe nicht wie eine Schauspielerin. Ich putze selbst, weil es mir einen Kontakt mit der Realität verschafft – ich denke dabei nach! Und ich mache meiner Wut Luft, vor allem wenn ich staubsauge.

Thomas Hampson: Das bringt uns auf die Bodenständigkeit der Schweiz. (Marthe lacht) Mir kommt es absurd vor, manuelle Tätigkeiten derart zu analysieren.

Marthe Keller: (mokant) Dann putz deine Schuhe mal selber!

Thomas Hampson: Nein, versteh mich nicht falsch! Ich tanke selbst und so weiter.

Marthe Keller: Solche Vorurteile gegenüber Schauspielern sind typisch. Wir sind wie alle anderen Leute auch.

Thomas Hampson: Wobei das Vorurteil berechtigt ist. Wenn einer wirklich sein Leben der Kunst widmet, dann braucht er besondere Ordnungen. Ich muss mich abschirmen können. Es ist wichtig, dass die Klimaanlage funktioniert, und vor der Vorstellung gibt es mir ein sichereres Gefühl, zum Opernhaus gefahren zu werden. Es geht mir nicht um ein elitäres Leben, nur darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Menschen, die ihr schönes Geld dafür ausgeben, zufrieden sind. Ich habe kein Bedürfnis zu beweisen, dass ich wie alle anderen bin.

Marthe Keller: Dustin Hoffman hat einmal zu mir gesagt: ‘Ich porträtiere Leute aus dem Volk, und um sie zu porträtieren, muss ich sie studieren. Doch sie entdecken mich, bevor ich sie anschauen kann.’ Seien wir realistisch: Wir leben von dem, was wir sehen. Wir stehlen. Aber gerade deshalb ist es besser, nicht bekannt zu sein. Hoffman tat mir Leid: Er kann andere nicht mehr beobachten!

Thomas Hampson: Hoffman ist ein Genie. Von ihm stammt das Bonmot: ‘Eine gute Kritik ist eine Begnadigung.’ Was so viel besagt wie: Fürs Erste wirst du noch nicht abgeschossen.

Marthe Keller: Ich lese selten Kritiken und manchmal erst nach einem halben Jahr.

Thomas Hampson: Ich bin Krebs und so sensibel, dass ich mich selbst beleidige. Ich bin nicht sehr gut im Nehmen. Wenn man mir etwas beibringen möchte, muss man mein Köpfchen streicheln, mich loben, den Tollsten nennen – und dann hinzufügen, dass ich das Ganze vielleicht anders machen sollte.

Marthe Keller: Oh ja. Man identifiziert sich so wahnsinnig mit seiner Interpretation einer Rolle.

Thomas Hampson: Eigentlich möchte ich nur Golfprofi werden. Den Ball so oft und so schnell wie möglich ins Loch befördern. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist beim Golfen enorm.

Marthe Keller: Die Konzentration auf ein Ziel ist heute etwas Seltenes. Ich hätte am liebsten zu Tschechows Zeiten gelebt. Ich wäre mit ihm abgehauen, egal wie viele Frauen er hatte. Er ist mein Gott! Die Emotion, die Intelligenz – er kannte die Menschen.

Thomas Hampson: Ich fühle mich nicht unwohl in meiner Zeit, merke allerdings, dass meine Weltanschauung mehr vom Fin de Siècle geprägt ist. Ich hätte gern mit Mahler studiert und wäre mein Leben lang stolz gewesen, ein ‘Mahler-Sänger ” zu sein.

Marthe Keller Ich arbeite momentan daran, opak zu werden, nicht mehr alles zu sagen. Ich rede zu viel. Das kommt auch vom Schauspielern. Als Regisseurin muss ich lernen, den Mund zu halten.

Thomas Hampson: Man muss von seinem Beruf Abstand gewinnen können. Wenn ich ins Theater gehe, weiß ich genau, wohin die Schauspieler nach ihrem Auftritt verschwinden. Deshalb ziehe ich das Kino vor – dort glaube ich alles. Wenn ich viel unterwegs bin, ist es meine Lieblingsbeschäftigung, zwei Stunden lang allein, unerkannt, in diese komplett andere Welt abzutauchen. Was machst du, wenn du Distanz brauchst? Sind neue Leute für dich eine Ablenkung?

Marthe Keller: Nein. Ich habe gute Freunde, wir hocken zusammen und reden.

Thomas Hampson: Malst du?

Marthe Keller: Ich bin völlig unbegabt. Doch mein Sohn ist ein sehr talentierter Maler. Er hatte schon zwei Ausstellungen.

Thomas Hampson: Na, bravo. Ich bewundere das! Und wie ist es mit Gewichtstraining oder Gymnastik?

Marthe Keller: Nichts mit Gewichten. Ich bin ein zyklischer Mensch. Monatelang kann ich Gymnastik machen, und dann habe ich plötzlich genug davon.

Thomas Hampson: Nimmst du zu?

Marthe Keller: Komischerweise nicht. Ich verbrenne eben viel.

Thomas Hampson: Ich hasse dich.

Marthe Keller: Das ist allerdings erst so, seit ich Opern inszeniere. Wenn ich deprimiert bin, weil ich an der Oper weniger verdiene als beim Film, dann sage ich mir, dass ich das Geld dadurch wieder hereinbekomme, weil ich nichts mehr tun muss, um abzunehmen. All diese Cremes, das kann ganz schön teuer werden…

Thomas Hampson: Hast du eine Videosammlung zu Hause?

Marthe Keller: Ich liebe alte Filme. Bei den neuen habe ich immer das Gefühl, die Darsteller stören die Special Effects.

Thomas Hampson: Man sollte einfach neue Opern schreiben. Es ist absolut möglich, mit Technologie, Projektionen, einem gut genutzten Bühnenraum und Musik etwas zu erzeugen, das dem Film standhält. Aber letztlich ist es wichtiger, was sich in unseren Köpfen abspielt. Es wäre ohnehin überheblich, von jemand zu sagen, dass er falsch auf ein Stück reagiert hat, denn jeder empfindet anders. Das ist eben das unbeschreibliche, nicht zuzuordnende Mysterium, warum eins den einen und ein anderes den anderen erreicht.

Marthe Keller: Als Schauspieler passiert es, dass man Abende hat, an denen man sich ganz da fühlt – und dann war es schlecht!

Thomas Hampson: Und dann gibt es Abende, an denen du denkst, ich bin erschöpft, die Stimme ist hinüber – und die Leute sagen: ‘So was, nie in deinem Leben warst du so gut! ”

Marthe Keller: Siehst du. Einmal hatte ich kurz vor einem Auftritt meine Stimme verloren und bekam eine Shiatsu-Massage – ich war dadurch so entspannt, dass ich ganz ohne Angst auf die Bühne ging. Nur: Weil ich keine Angst hatte, nagte an mir das Gefühl, ich könne gar nicht gut sein. Als mir der Schlussapplaus zeigte, dass dem Publikum meine Vorstellung gefallen hatte, liefen mir die Tränen herunter: Ich hatte vorher nicht gelitten. Man muss die Kinder mit Schmerzen zur Welt bringen, heißt es immer.

Thomas Hampson: Ich lasse mich häufig am Tag einer Vorstellung massieren – ich möchte auf der Bühne genau wissen, wo ich den Arm habe und wo der Mittelfinger ist. Gestern bei Don Giovanni war ich wahnsinnig irritiert. Irgendetwas störte mich an meinen Händen. Ich hatte meinen Ehering nicht abgelegt.

Marthe Keller: Bei mir ist das Spielen etwas vollkommen Unbewusstes. Ich merke auf der Bühne nichts von meinem Körper.

Thomas Hampson: Sagen wir es so – ich möchte mir den Körper zur Verfügung halten. Wenn ich nicht Sänger wäre, wäre ich sicher Shiatsu-Meister. Das ist unheimlich interessant, diese Zusammenhänge. Es gibt eine junge Sängerin, die bestimmte Arien nie singen konnte. Da habe ich sie gebeten, ihre Rollerblades anzuziehen. Sie hat gesungen und fing an zu weinen. So groß war die Enthemmung. Sie hat plötzlich die Erlaubnis zum Singen gespürt – und das hat ihr Leben verändert.

Marthe Keller: In der Schule habe ich wenig gelernt, aber umso mehr von Menschen, die ich bewunderte.

Thomas Hampson: Ich hatte einflussreiche Professoren – Sänger haben das. Auch der fundamentalistischen Religion, in der ich groß geworden bin, den Adventisten des Siebten Tages, verdanke ich ein gewisses Gerüst. Meine Stimmlehrerin war eine Nonne, die bei der berühmten Wagner-Interpretin Lotte Lehmann studiert hatte. Für mich als eiserner Protestant war eine Nonne sehr exotisch, doch sie hat mir die Kultur eröffnet, mich aufwachen lassen – und das sind ja die großen Momente, wenn das, was in einem kocht, bestätigt wird. Ich wurde nie als Shootingstar gehandelt. Dass Leonard Bernstein verrückt nach mir war, bedeutete für mich gerade deshalb ein Riesengeschenk. Ich bedauere, dass er so früh gestorben ist. Ich würde ihm so gern noch einmal etwas vorsingen, um ihm zu zeigen, dass ich aufgepasst habe.

Marthe Keller: Das weiß er, er ist da!

Das Gespräch moderierte Ingeborg Harms.