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Jubelnde Demut statt Weltschmerz

Der Bariton Thomas Hampson singt an Mahlers Geburtsort – und will den Komponisten zurück ins Leben holen

Herr Hampson, zum 150. Geburtstag von Gustav Mahler singen Sie seine Lieder an dem Ort, wo alles begann. Im böhmischen Dorf Kalište wurde der Komponist geboren. In welche Welt tauchen wir dort ein? Woher kommt Mahler?

Es ist vor allem eine zauberhafte Welt: ein winziges Dorf, tief versteckt in einer Landschaft, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Man geht über Hügel und Alleen und möchte überromantisiert denken, dass man dort alle Lieder hört, die Mahler geschrieben hat. (Singt:) „Ging heut Morgen übers Feld“.

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Kalište und dem, was wir an diesem Tag hören werden: Das Dorf war ein Durchzugsort für das Militär. Jedes Regiment, das von Norden nach Süden marschierte, musste durch Kalište ziehen, und dabei wurde Musik gespielt. Mahler hat viele dieser Melodien aufgenommen, wie etwa aus einem unbekannten Opernvorspiel von Donizetti. (Singt:) „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz …“ Das soll die Militärmusik gespielt haben, mit quietschenden Klarinetten. Einige Impulse sind diesem kleinen Ort zu verdanken. Er wird zum Geburtstag sicher eine Wallfahrtsstätte werden und „Mahler- Crazys“ aus der ganzen Welt anziehen.

Sie sind auch ein „Mahler-Crazy“ – nicht nur als herausragender Interpret seiner Lieder, sie forschen auch über Mahler und haben seine Noten neu herausgegeben. Was fesselt Sie an Mahler?

Wie Mahler seine Zeit philosophisch, literarisch und musikgeschichtlich bearbeitet und vollendet, das lässt mich einfach nicht los. Diese Periode der Zivilisation ist für mich eine besondere. Ich habe dort sehr viele persönliche Antworten und Erklärungen für meine eigene Weltanschauung gefunden. Ich finde, dass das Fin de Siècle, diese Jahre, die bewusst oder unbewusst zum Ersten Weltkrieg führen, eine der spannendsten Zeiten der Geschichte überhaupt ist. Wie Mahler die Menschen, ihre Instinkte und Zusammenhänge hörbar gemacht hat, fesselt mich. Das Banalste steht neben dem Profundesten, in einem Atemzug, das ist sehr aufregend und immer neu. Keine Aufführung ist gleich. Es ist immer lebendig und bleibt manchmal ohne Antwort. Fragen sind oft viel interessanter als Antworten. Mahler war kein Fingerzeiger im Sinne von „hier geht’s lang Menschen“. Er hat immer einen Kosmos hörbar gemacht, in dem jeder fragen kann, worum es eigentlich geht.

Natürlich war Mahler ein ehrgeiziger und schwieriger Mensch, aber ich glaube, seine wirklichen Eigenschaften sind viel barmherziger, viel humorvoller, viel lebendiger als wir ihn zu kennen glauben. Er hat von sich selbst gesagt, dass nach seinem Ableben sein Humor am meisten missverstanden werden würde. Wenn ich Humor sage, meine ich das im Sinne eines geistreichen Augenzwinkerns.

Wie dringt man am besten in das Mahler- Universum ein?

Mahler lernt man am intimsten durch seine Lieder kennen. Zum Beispiel mit seinen Kindertotenliedern. Ja, er hat Geschwister verloren, die Sterberate war damals hoch – aber darum geht es nicht. Die Kindertotenlieder sind Mahlers Requiem, eine der deutlichsten religiösen, spirituellen Aussagen, die wir von ihm haben. Ein faszinierendes Werk!

Mahler ist mein Orientierungspunkt: Es gibt vor Mahler, in Mahler, um Mahler und nach Mahler. Schönberg hat ihn als Halbgott bezeichnet, Berg, Webern, Schreker – alle nach Mahler haben gesagt, er ist ein Gigant. Er wäre es auch, wenn er keine einzige Note geschrieben hätte, als Dirigent und Intendant. Unvorstellbar. Wir haben noch viel von ihm zu lernen.

Ich würde gerne ein bisschen die Vergötterung verringern und seine profunden Überlegungen über das Menschsein betonen, die nicht immer angehaucht waren von diesem Sterbe-sterbe-sterbe – das ist nicht wahr. Er wollte als lebendiger Fragender dastehen, der den Tod nicht als Sackgasse begreift.

Wie geht Mahler mit den Texten für seine Lieder um? Was verraten seine Literaturbearbeitungen über ihn?

Mahler musste sich auf der Universität entscheiden, ob er Schriftsteller werden wollte oder seine Studien als Komponist fortsetzt. Die Idee, dass Mahler respektlos gegenüber Texten war, ist absurd. Mann muss sich nur seine Arbeitsweise anschauen, was er aus den Texten herauslas, seine raffinierte Auswahl. Über die Gedichtsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ sagte er, diese Dichtung ist wie Felsblöcke. Er hat sie als Bildersprache angesehen. Wörter und Phrasen stehen darin wie Inseln von Begriffen, die viele Hintergründe und Schichten haben. Er hat die Begriffe ausgesucht und mit Wort und Ton einen Kosmos geschaffen, der in eine neue Welt hineinleuchtet. Das hat nichts mehr mit dem Kunstlied oder mit dem Volkslied zu tun. Er hat eine eigene Kunstform in diesen Liedern kreiert.

Wie mit den Kindertotenliedern. Mahler greift fünf aus Rückerts 425 Gedichten heraus und baut seinen Zyklus mit dem Ziel, eine eigene Aussage zu finden. Da geht es vom Dunkel zum Licht, vom Schmerz hin zur Erlösung der Gedanken, von der verdammten irdischen Existenz zur Hoffnung auf ein anderes Leben. Am Schluss sagt er: Es ist nur mit Liebe und Wille zu schaffen. Da passt er perfekt zu Goethes Faust. Der sagt: Wir kommen, um zu gehen. Was dazwischen liegt, das ist, was uns betrifft. So ist Mahler.

Muss man mit Ihren Augen auch das berühmte Weltschmerz-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ ganz anders hören als bisher?

Dieses Lied ist jubelnde Demut, für mich ein künstlerisches Credo. Dass es ein trauriges Lied ist, ist ein Missverständnis. Mahler sagt in seinen Vortragsanweisungen nie, wie man es machen soll, er sagt wovor man sich hüten soll, „nicht eilen“, „nicht sentimental“. Und danach kommt eine Phrase, wie sie sentimentaler nicht sein kann. (Singt:) „Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!“ Nicht eilen! Und dann gleich danach: „Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, ob sie mich für gestorben hält.“ Nicht schleppend! Überwinde es. Warum? Dann spricht Mahler vom Jenseits und in seinem Orchester erklingt eine Harfe, die von unten hinauf läuft, ein zauberhafter Moment. „Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, und ruh’ in einem stillen Gebiet!“ Jambambambam. Das ist immer ein Zeichen von Jenseits, nicht von Tod. Für ein Paralleluniversum, eine Reise zu sich selbst.

Thomas Hampsons Liedernachmittag in Mahlers Geburtshaus wird am 7. Juli um 15 Uhr im Internet unter www.medici.tv live übertragen. Eine Aufzeichnung des Festkonzerts mit dem Mahler Chamber Orchestra strahlt Arte am 11. Juli um 19.15 Uhr aus. Das Gespräch führte Ulrich Amling.

Der Tagesspiegel

Thomas Hampson, 55, ist einer der großen Mahler-Interpreten unserer Zeit. Der amerikanische Bariton studierte u. a. bei Elisabeth Schwarzkopf und gab Mahlers Lieder neu heraus.