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Crescendo: Eine Insel in der Zeit

Crescendo

Thomas Hampson bringt mit seinem hell timbrierten, farbenreich schillernden lyrischen Bariton den Liedgesang zu höchster Vollendung. Seine Programme zeichnen sich durch eine besondere Zusammenstellung und fundierte Recherche aus. Durchdrungen von tiefem Verantwortungsgefühl gegenüber dem Komponisten und der Gesangskunst, übt er seit Jahren seine Lehrtätigkeit aus.

CRESCENDO: Mister Hampson, das Lied erfreut sich größter Beliebtheit. Während noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Liederabende kaum ein Publikum fanden, gibt es mittlerweile Liedprojekte aller Art. Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Thomas Hampson: Ich habe darauf keine goldene Antwort. Für mich sind Lieder ein Tagebuch des Daseins. Sie beinhalten die zeitlosen Eigenschaften des Menschen. Das Gedicht steht für die Erfahrungen, denen das Leben einen aussetzt, und die Musik für das Gefühl in dem Geschehen. Fügen sich diese beiden einzigartigen Kunstformen zusammen, bilden sie eine lebendige geistige und emotionale Auseinandersetzung. Wenn jemand offen und interessiert ist, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, kann daraus ein faszinierendes, oft unterhaltsames, aber vor allem Perspektiven öffnendes Erlebnis werden. Wir müssen uns mit unserem Dasein befassen und uns fragen, warum wir überhaupt da sind. Das Große Buch, das diese Fragen behandelt, ist das der Lieder. In ihm liegen die Baupläne des Menschen.

Eine historische Aufnahme kurz vor dem Tod Leonard Bernsteins: Thomas Hampson, singt den Zyklus Kindertotenlieder von Friedrich Rückert und Gustav Mahler mit Leonard Bernstein am Pult der Wiener Philharmoniker.

Sie gaben Mitte der 1980-Jahre in London Ihr Debüt als Liedsänger. In der Folge holte Leonard Bernstein Sie für die Aufnahme von Gustav Mahlers Liedern. „Alchimistisch“ nennen Sie Ihre Hinwendung zu Mahler und seinen Liedern…

Alchimie bedeutet, dass es eine Grundsubstanz gibt, die sich mit anderen Substanzen bindet und etwas Neues entstehen lässt. Gustav Mahler weckte in mir das Interesse für Germanistik, Geschichte, Theologie und Philosophie. Er öffnete mir eine andere Sicht auf die Welt und ihre Zusammenhänge. Manchmal wird er als Anhänger Nietzsches oder Schopenhauers, als Mystiker oder Jude mit christlichen Wurzeln bezeichnet. Nach jahrelanger Beschäftigung mit ihm ist er für mich einfach Mahler. Er stellte seine eigenen geistigen Zusammenhänge her, und die erachte ich als überaus bedeutsam.

Weltpoesie ist Weltversöhnung“, erklärte Friedrich Rückert. Mit Ihrer 2003 ins Leben gerufenen Hampsong Foundation setzen Sie sich durch das Medium Liedkunst für einen interkulturellen Dialog und Völkerverständigung ein. Wie sieht das in der praktischen Umsetzung aus?

Lieder öffnen Verbindungen zu verschiedenen Sprachen, Kulturen und Epochen. Diese aufzuzeigen, ist die Aufgabe meiner Stiftung. 2013 befand sich das Internet noch in den Anfängen. Es war nicht alles so zugänglich wie heute. Mit der Stiftung wollte ich eine Plattform schaffen, auf der Lied-Begeisterte Bedeutungen entschlüsseln und Zusammenhänge ergründen können. Zunächst hatte ich mit dem Projekt Song of America das amerikanische Lied vor Augen. Dann sagte ich mir, dass wir das auch mit Europa versuchen können. Tatsächlich lässt sich anhand der Lieder zeigen, wie sich von 1815 bis zur Gegenwart allmählich ein Bewusstsein für dieses werdende Europa entwickelt. Die Lieder offenbaren, wie Menschen einander sehen, ob sie einander als Feinde betrachten oder sich freundschaftlich verbunden fühlen. Solche aus Liedern gewonnenen Erkenntnisse sind sehr anregend. Sie können eine Ergänzung zu Fächern wie Wirtschaft, Politologie, Soziologie und Geschichte bilden. Wenn man sich mit der Zeit des Reichskanzlers Otto von Bismarck befasst und darauf hört, was die Menschen damals als Gedicht und Musik bewahrten, erhält man einen tiefen Einblick in das Lebensgefühl der Menschen damals, ihre Denkhaltungen, ihren geistigen Horizont und ihren Gefühlszustand. Die Künste sind das Tagebuch des Daseins.

Johann Gottfried Herder sammelte im 18. Jahrhundert Volkslieder. Béla Bartók war im 20. Jahrhundert unterwegs in Ungarn, Rumänien und bis nach Ägypten. Wo wäre es heute noch lohnenswert, Lieder zu sammeln?

Herder verstand unter Volkslied nicht eine bestimmte Gattung. In seiner Sammlung befinden sich Volkspoesie ebenso wie Lieder, die von Dichtern stammen. Was er suchte, war der wahre Ausdruck der Seele. So sammelte er Lieder, die sich über die Generationen hinweg im allgemeinen Bewusstsein hielten, die Mütter von ihren Müttern gehört hatten und wiederum ihren Kindern vorsangen. Achim von Arnim und Clemens Brentano wurden von ihm zu ihrer Sammlung Des Knaben Wunderhorn angeregt, deren ersten Band sie Goethe widmeten. Auch Bartók und Zoltán Kodály diskutierten die Gattung Volkslieder, ebenso Cecil James Sharp, der im südlichen England und südlich der Appalachen in den USA sammelte sowie die Sammler John Avery Lomax und sein Sohn Alan Lomax, die im Süden der USA unterwegs waren. Das Weitertragen der Lieder von Generation zu Generation zeigt, dass man das Leben als eine Vorwärtsbewegung betrachtet. In dem Sinne könnte man heute im Rap Aussagen finden, die relevant sind für unsere Gegenwart und auf die wir hören sollten.

Wenn wir jetzt von den Liedern der Welt sprechen, muss man leider feststellen, dass das Repertoire, das man hierzulande in Liederabenden geboten bekommt, keineswegs die Welt abbildet…

Natürlich dürfen wir nicht immer dieselben Schubert-Lieder singen. Wir müssen tun, was wir können, um das Repertoire zu erweitern. Während der Schubert-Woche 2021 führten wir in Partnerschaft mit der Heidelberger Lied Akademie im Pierre Boulez Saal Berlin in 12 Konzerten und sieben Tagen Meisterklasse 160 einzelne Lieder von Schubert auf. Zehn dieser 12 Konzerte wurden von Künstlern gesungen, die unter 30 Jahre alt waren. Darauf bin ich sehr stolz. Denn darin liegt für mich die Zukunft des Liedes. Diese jungen Künstler suchten selbst nach unbekannten oder vergessenen Liedern.

Der 2019 verstorbene Komponist Hans Zender, der mit Schuberts Winterreise „eine kompositorische Interpretation“ des Zyklus schuf, beschrieb Liederabende ironisch mit den Worten: „Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist großer Saal“…

Der Frack als Konzertgewand stammt aus dem 19. Jahrhundert. Zur Zeit von Clara Schumann und kurz danach wurde er zum Musikgewand. Das ist eine alte Form, die nicht unbedingt sein muss. Ich glaube aber auch nicht, dass alle in Jeans und Sportschuhen auftreten sollten. Im Gegenteil, ein Konzert ist für mich ein besonderes Erlebnis mit einzigartiger Atmosphäre. Worum es gehen muss, ist die Botschaft, die in der Dichtung und in der Musik liegt. Die Menschen brauchen Geschichten, die sie einladen, sich auf ihr Menschsein zu besinnen. Dazu kenne ich keinen besseren Weg, als Lieder zu singen.

Im Gesprächsband mit Clemens Prokop äußern Sie den Wunsch, das Staunen weiterzugeben und eine neue Generation anzustiften, „ihre eigene Neugier zu finden“. Gleichzeitig geben Sie mit Ihren Meisterkursen die Tradition weiter. Wo verläuft für Sie der Grat zwischen Neuem und Tradition?

Die Tradition ist mit dem Staunen verbunden. Nur weil etwas 250 Jahre alt ist, bedeutet das nicht, dass wir nicht darüber staunen können. Es handelt sich um die zeitlosen Aussagen von Lyrik und Musik. Selbst in einem 250 Jahre alten Lied ist alles von unserem heutigen Menschsein zu entdecken. Wir sollten nie die Fähigkeit verlieren, neugierig zu sein und etwas zu bestaunen und zu bewundern. Woran ich allerdings festhalte, das ist die klassische Gesangstechnik. Den Umgang mit dem Stimmapparat und der Atmung muss man lernen, wie man lernt, ein Instrument zum Klingen zu bringen. Und es begeistert mich, jungen Künstlern diese Technik beizubringen. Damit ebne ich ihnen den Weg zum eigenen Ausdruck. Jede Generation muss die nächste inspirieren.

Jens Malte Fischer zitierte 2020 in seiner Laudatio anlässlich des an Sie verliehenen Musikpreises Heidelberger Frühling das holografische Dreieck, mit dem Sie die Philosophie Ihrer Meisterkurse ins Bild fassen. Als zweite Spitze des Dreiecks benennen Sie den Kontext. Inwiefern nimmt ein solches Wissen Einfluss auf Ihre Interpretation?

Der Kenntnis dieser Zusammenhänge kommt eine große Bedeutung für die Interpretation zu, wobei mir der Begriff „Interpretation“ problematisch erscheint. Lieber spreche ich von Entzifferung. Ich möchte das Lied, das ich singe, so gründlich wie möglich verstehen und seine Wahrheit im Sinne des Textdichters und Komponisten erkennen. Goethe ist nicht Heine, und Heine ist nicht Rückert. Dichter werden von unterschiedlichen Lebensvorstellungen geleitet. Man kann die Lieder von Hugo Wolf nicht verstehen, ohne seine Besessenheit von der Sprache zu kennen und etwas über seine Zeit zu wissen. Eine Hampson-Fassung wird es, weil ich meinen Körper, meine Stimme und mein Können zur Verfügung stelle, um diese gewaltigen menschlichen Erfahrungen auf der Bühne erlebbar werden zu lassen.

Von Franz Schubert wurde lange Zeit das Bild des unglücklich in Frauen verliebten Komponisten hochgehalten, bis Maynard Solomon als einer der ersten belegen konnte, dass Schubert homosexuell war und in Wien einer subkulturellen homosexuellen Gemeinschaft angehörte. Welchen Unterschied macht es für eine „Entzifferung“ seiner Lieder dieses Wissen zu besitzen?

Meine Antwort ist ebenso kühn wie Ihre Frage: Es bedeutet gar nichts. Wenn Schubert ein Gedicht über Sehnsucht vertont, hat das mit Liebe zu tun und nicht mit dem Geschlecht. Lippen sind Lippen, und Herzen sind Herzen. Gefühle sind viel stärker als das Geschlecht. Schubert hatte ein kompliziertes, unerfülltes Leben, und er sehnte sich nach Liebe. Aber er hinterließ eine so enorme Vielfalt an Betrachtungen menschlicher Tugenden und Eigenschaften dass wir alle darin Inspiration finden können. Diese jungen Männer damals hatten viele Geheimnisse. Wir können uns heute kaum vorstellen, was von Staatskanzler Metternich alles als liberales Denken geahndet wurde.

Sie warfen die Frage auf, ob Schubert, Schumann und Wolf durch ihre syphilitische Erkrankung eine erhöhte Sensibilität für „die lyrische Form“ hätten…

Diese Frage fasziniert mich. Der Gesundheitszustand von intellektuellen Künstlern spielt eine Rolle in der Kreativität. Künstler, die die Krankheit in sich trugen, lebten auf der Spitze ihrer Empfindsamkeit.

Ein wichtiger Interpret Schuberts zu dessen Lebzeiten war der Hofopernsänger Johann Michael Vogl. Er leitete die Tradition der Bariton-Liedsänger ein, die bis in die Gegenwart führt. Haben Sie Vorbilder in dieser Tradition?

Jeder, der vor mir kam, ist ein Vorbild für mich. Manche haben mich überwältigt wie Lotte Lehmann zum Beispiel. Ich bin ein Sammler von Aufnahmen. Wenn ich mich mit einem Lied befasse, möchte ich immer wissen, wer es schon gesungen hat. Es ist aufregend zu hören, wie die Sänger der Vergangenheit klangen. Ich habe viel gelernt von Sängern, die längst tot sind. Auch meine jüngeren Kollegen fordere ich auf, sich Aufnahmen der Vergangenheit wie der Gegenwart anzuhören. Sich nur auf einen Sänger zu fixieren, kann gefährlich sein. Aber zu sagen, ein junger Sänger sollte sich nichts anhören, weil er sonst imitiere, erachte ich als sinnwidrig. Das Gegenteil ist der Fall. Ein junger Musiker kann gar nicht genug Musik hören.

2011 wurde in Heidelberg die Liedakademie gegründet. Fünf Jahre später folgte das Internationale Liedzentrum. Sie sind als Künstlerischer Leiter beiden Institutionen eng verbunden. Wie sehen Ihre Pläne aus?

Die Liedakademie bildet die zentrale Säule des Liedzentrums. Mein Wunsch ist es, das Zentrum als Ort intensiven Austauschs zu einem Campus zu entwickeln. Junge Sänger sollen sich hier für ihren Sprung auf die Bühne vorbereiten können. Dazu gehören die Pflege des Stammrepertoires sowie die des Randrepertoires, das von dem Stamm inspiriert wird. Darüber hinaus ist aber das Liedzentrum auch ein Veranstaltungsort. Sänger müssen sich vor Publikum beweisen, um sich zu entwickeln und weiterzukommen. Im Laufe der Zeit haben wir eine ziemlich große Zahl an jungen Sängern ins Konzertleben entlassen. Einige sind bereits erfolgreich unterwegs in ihrer eigenen Karriere. Andere brauchen noch etwas Begleitung. Im Liedzentrum sollen sie einen Ort finden, an dem sie sich ausprobieren und ihren Weg finden können.

Dietrich Fischer-Dieskau sah in Anlehnung an Furtwängler den Sinn eines Liederabends im Herstellen einer „Liebesgemeinschaft zwischen Vortragendem und Zuhörenden“…

Was für ein schönes Bild! Ja, ein erfolgreicher Liedsänger besitzt diese Liebe zu den Menschen. Wir sind alle leidenschaftlich davon überzeugt, dass, was wir singen, wichtiger ist, als wir selbst. Unsere Aufgabe ist es, den Saal zum Klingen zu bringen. Ein gemeinsames musikalisches Erlebnis unterstützt nur das Phänomen, dass jeder Zuhörer im Saal seine eigene Auseinandersetzung erlebt. Ferruccio Busoni schrieb in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst vom Tempel der Kunst. Ich empfinde einen Liederabend als eine Insel in der Zeit. Die Zeit bleibt stehen und ermöglicht eine Reflexion des eigenen Ichs außerhalb des Alltags. Insofern schafft ein solcher Abend eine Liebesgemeinschaft.