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Busoni’s Doktor Faust

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Ein Artikel aus dem Opernhaus-Magazin des Opernhauses Zürich
September 2006

Für Thomas Hampson, der die Titelrolle interpretiert, ist Busonis „Doktor Faust“ ein “aussergewöhnliches Werk mit einem Sujet von unglaublicher Komplexität”. Busonis Bearbeitung des Faust-Stoffes, so der Sänger, ist in gewisser Weise ein innerer Dialog mit autobiographischen Momenten: das Dilemma des Künstlers auf der Suche nach der letzten Wahrheit, der perfekten Form, dem reinen Ausdruck. Es ist nicht nur die Geschichte eines alten Mannes, der seine Jugend wieder finden will, sondern es geht um das Bestreben, all das zu erlangen und zu verstehen, was man weder erlangen noch verstehen kann. Das Problem dieses Doktor Faust ist, dass er einerseits selbst voller Lebenssehnsucht ist und andererseits das Leben als solches erkennen und verstehen will. Sein eigenes Leben zu leben und gleichzeitig den übergeordneten Sinn des Lebens zu erkennen, ist unmöglich. Das ist eine dieser grossen Fragen, die der Mensch sich stellt und sich immer stellen wird.

Was Hampson an der Interpretation des Faust reizt, ist Fausts intellektuelle Überheblichkeit, in der er sich wieder findet: alles in Frage zu stellen, die Umwelt zu provozieren mit noch intelligenteren Argumenten, jedoch weniger auf der Suche nach Antworten, sondern einfach, um die Menschen zu verunsichern. „Schauen Sie nur, wie Faust seine Studenten behandelt, oder sein Verhalten während seiner ersten Begegnung mit Mephistopheles: Er ist arrogant, überheblich, er hält immer eine bestimmte Distanz, weil er im selben Moment beobachtet; doch diese intellektuelle Selbstbefriedigung verschwindet mehr und mehr, er hat immer weniger das Bedürfnis, seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen.“

Die Idee, dass ein Gedanke in dem Moment, in dem man ihn denkt, schon Handlung, Realität wird, ist sehr deutsch, meint Hampson. Jedes Mal, wenn Faust an etwas denkt, das er mit Mephistopheles tun oder besprechen sollte, erscheint Mephistopheles. Das bedeutet, so Thomas Hampson, dass unsere Fähigkeit zu denken schon eine Handlung beinhaltet, dass es also keinen Unterschied gibt zwischen dem Denken und dem Handeln. Wenn Faust an die Herzogin denkt, erscheint sie, aber ihre negative Seite erscheint auch, das heisst, dass die Herzogin, mit der Faust gerne ein romantisches Abenteuer erleben würde, zusammen mit ihrem eifersüchtigen Ehemann erscheint. Faust will die Herzogin besitzen, doch auf der anderen Seite verlässt er sie. Es gibt immer eine Symmetrie. So wie Faust in der ersten Szene sagt: „Gib mir Genie“, aber auch: „Gib mir auch sein Leiden“.

Busoni wollte sich von Goethe abgrenzen – im “Doktor Faust” sind dennoch, so ist Hampson überzeugt, “Goethesche Übertöne” vorhanden. Bei Busoni spüre man jedoch stärker den Riss, der durch die Titelfigur geht, einen Riss des Unerfülltseins; dieser Faust, so betont der Sänger, sucht noch mehr einen Sinn in seinem eigenen Leben als den Sinn des Lebens im allgemeinen. Es geht dabei sehr viel mehr um den Prozess des Suchens, weniger um das Ziel; das Erreichen des Zieles könnte, so Hampson, das Ende des Suchens und damit das Ende des Lebens bedeuten.

Wenn man Busonis Mephistopheles mit anderen Mephistos – zum Beispiel in den Opern von Gounod, Berlioz, Boito und anderen – vergleicht, dann ist dieser hier, so Hampson, weniger diabolisch, weniger „böse“; er repräsentiert vielmehr Fausts negativen Pol, seine schwarze Seite, seine „verdammte Seele“. Das bedeutet, dass wir alle ein bisschen wie Faust sind – und dass wir alle unseren Mephisto haben.