Afroamerikanische Komponisten sind unsichtbar
Was können wir heute daraus lernen, dass afroamerikanische Komponisten so lange unsichtbar bleiben mussten? Und wie schaffen wir mehr Gerechtigkeit in der Kultur? Diesen Fragen stellt sich ein Symposium in Stuttgart. Star-Bariton Thomas Hampson erklärt, worum es geht.
BR-KLASSIK: Thomas Hampson, “Singing Justice Conference” heißt die Veranstaltung, die am 5. und 6. November an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart stattfindet. Es geht also um Gerechtigkeit. Wer genau soll da Gerechtigkeit erfahren?
Thomas Hampson: Wenn wir uns über schwarze amerikanische Kultur, über “African American creativity” informieren, erfahren wir mehr über amerikanische Kultur an sich. Und das, was man dabei erfährt, ist manchmal sehr dornig und schwer zu ertragen – aber es zeigt auch, dass es einen Fortschritt gibt. Aber vor allem – und das ist der Hauptgrund für dieses Symposium – wollen wir identifizieren, was noch nicht gehört wurde. Unser Kulturbegriff muss so bunt sein, wie nur möglich. Und es gibt auch im klassischen Bereich, besonders in Amerika, eine gewisse Kolonisierungs-Verzerrung. Das heißt: Es wurde über die Jahre immer entschieden, ob dies oder jenes gehört oder wahrgenommen werden sollte. Dabei hat das Schaffen der Afroamerikaner wie in einer Art Paralleluniversum stattgefunden. Bis jetzt zumindest. Unser Wunsch ist es, den Kulturbegriff zu erweitern und zu vertiefen.
Es gibt im klassischen Bereich, besonders in Amerika, eine gewisse Kolonisierungs-Verzerrung.
BR-KLASSIK: Also Sie vervollständigen die Geschichte damit?
Thomas Hampson: Hoffentlich. Und auch den kulturellen Aspekt unserer Geschichte. Warum machen wir dieses Symposium hier in Europa? Weil die Europäer ein großes Interesse an dieser Diskussion über die amerikanische Kultur haben. Aber auch weil sehr viele der Komponisten und Dichter, um die es geht, in Europa gelebt, studiert und eine gewisse Freiheit gefunden haben. Viel von dem, was in Amerika wertgeschätzt wird, wurde in Europa geschrieben. Das ist schon sehr interessant. Auch die Wahrnehmung von Schwarzen Künstlern in Europa ist eine spannende Geschichte.
SCHWARZE MUSIKER IN EUROPA
Der berühmte afroamerikanische Opernsänger Roland Hayes zum Beispiel trat vors europäische Publikum mit Schubert-Liedern. Und die Leute waren erstaunt: Was macht der mit unserer Kultur? Er wurde mit Pfiffen und Buhs auf der Bühne begrüßt, das war in den 1920er-Jahren. Dann hat er angefangen zu singen. Und am Ende gab es einen riesen Applaus. Allein diese Anekdote zeigt, was wir noch tun müssen. Wir müssen uns erlauben, als Kultur und als Gesellschaft eine andere Perspektive einzunehmen. Und meiner Meinung nach ist das eines der gesündesten Unterfangen überhaupt.
BR-KLASSIK: Die Singing Justice Conference geht zurück auf eine Arbeitsgruppe an der University of Michigan, die sich seit 2020 mit dem Thema Gerechtigkeit befasst – und auch in Stuttgart dabei sein wird. Sie haben den Kontakt hergestellt und das Forschungsteam eingeladen. Wie packen die Experten in Michigan das Thema an? Mit welchen Mitteln kann man denn Schwarze Komponistinnen und Komponisten bekannter machen?
Thomas Hampson: Ich bin selbst in dieser Arbeitsgruppe tätig. Es ist eine sehr spannende Gruppe mit älteren und jungen Musiker:innen und auch Akademiker:innen. Es sind auch Leute dabei, die eher aus dem HipHop kommen oder aus dem Jazz und auch Historiker. Unser Anliegen ist, Fragen wie “Was wurde nicht wahrgenommen?” und “Was können wir daraus lernen?” zu beantworten. Und außerdem wollen wir die Antwort auf die Frage “Was ist Black Music?” in eine verständliche Form bringen. Und es geht vor allem auch um die Bewunderung für die Komponisten, die Dichter und zum Teil Historiker, die bis jetzt noch keine Aufmerksamkeit erfahren durften.
Auch heute empfinden sich Komponisten aus der afroamerikanischen Community als unsichtbar.
BR-KLASSIK: Es braucht also auch Interpretinnen und Interpreten, die den Mut haben – oder die Gelegenheit –, diese Musik vorzustellen.
Thomas Hampson: Richtig. Und die haben wir. Mir ist es egal, welche Hautfarbe eine Person hatte, die die Musik oder das Gedicht geschrieben hat. Selbstverständlich, wenn ein Schwarzer Komponist oder Dichter aus seiner ganz persönlichen Erfahrung schreibt, haben wir daraus zu lernen. Aber letzten Endes heißt es “American poetry”, “American music”, “history of American culture”. Und all das ist so vielfältig und so bunt wie man sich das nur vorstellen kann. Amerika ist eine politische Landschaft aus unterschiedlichen Kulturen. Und wenn man sieht, wie die afroamerikanische Community in einem “Paralleluniversum” so viel komponiert und so viel geschrieben hat und versucht hat, zu signalisieren: Wir sind auch da, wir sind nicht unsichtbar –, das finde ich sehr aufregend. Trotzdem: Auch heute empfinden sich Komponisten aus dieser Community als unsichtbar. Wie ist das möglich?
THOMAS HAMPSON: KLASSIK-INDUSTRIE BRAUCHT MEHR DIVERSITÄT
BR-KLASSIK: Ansatzpunkt der Forschung ist, dass die internationale Musiklandschaft immer noch männlich und weiß dominiert ist. Es werden die immer gleichen Komponisten gespielt und gesungen. Sie selbst singen Schuberts “Winterreise” am kommenden Wochenende.
Thomas Hampson: Ich glaube nicht, dass wir die Vergangenheit verabschieden müssen. Es gibt nichts in diesem Projekt, das mit “Ersetzen” zu tun hat. Ich brauche nicht die “Winterreise” mit einem Langston Hughes-Gedicht. Die Werke müssen Seite an Seite existieren können. Das ist der Punkt. Wir brauchen nicht farbenblind zu werden. Wir müssen „farben-freudig“ werden. Und eine Vorstellung von der “Winterreise” oder Schuberts Musik allgemein hat nichts damit zu tun, woher der Interpret kommt, welcher Nation er angehört. Man muss verstehen, woher das Stück kommt. Man muss Schubert verstehen.
Aber klar ist trotzdem: die Klassik-Industrie braucht dringend mehr Offenheit und Diversität. Aber das hat nicht mit Hautfarbe, sondern vor allem mit Repertoire zu tun. Auch wenn es sich um ein Geschäft handelt: Ein Veranstalter muss mutig genug sein zu sagen: Das sollte gehört werden. Und nicht: Weil sich etwas verkauft, werden wir es machen – und immer wieder hören. Unser Liedrepertoire ist wirklich viel zu begrenzt. Und den Lied-Kanon zu vernachlässigen, das ist für mich kultureller Selbstmord.